12
Larry Wilders Mutter hatte das Recht, ein ebenso knurrender Köter zu sein, wie Mrs. McKenzie es gewesen war, doch sie erwies sich als freundlich und war gern bereit, mich um 14 Uhr 30 zu empfangen. Auf der Fahrt zu ihrer Adresse knapp südlich von Brentwood hielt ich an der Third Street Promenade in Santa Monica an, um mir ein Mittagessen zu besorgen. Früher kam ich mit den Kindern wirklich gern hierher, weil die Promenade eine Fußgängerzone ist und ziemlich sicher wirkte – aber nur, bis einer der Jungs vom Drogendezernat mit mir einen kurzen Ausflug dorthin machte und mir die ganzen Taugenichtse zeigte, von denen die meisten sich als gesetzestreue Bürger tarnten. Während ich an einem Taco-Stand auf meine Bestellung wartete, beobachtete ich die Jugendlichen, die sich in der Gegend herumtrieben. Es gab eine Horde von Jungs, die alle in derselben Altersgruppe zu sein schienen wie meine Opfer – mit dem Wissen, das ich jetzt habe, neige ich zu der Ansicht, dass sie zu jung sind, um ohne ihre Eltern hier zu sein. Sie zeigten das für junge Teenager so typische Rudelverhalten. Wenn der Anführer sich in Bewegung setzte, folgten ihm die anderen in der genau festgelegten Rangordnung eines Starenschwarms. Auch bin ich der Meinung, dass es ein Hinweis auf echte Führungsqualitäten ist, wenn ein Junge es schafft, Anführer einer solchen Gruppe zu sein. Aber wie formuliert man das auf einem Bewerbungsformular? Ich habe eine Gang angeführt, habe die Jungs bei der Stange gehalten, also gebt mir endlich ’nen verdammten Job.
Von der Promenade war niemand verschwunden, zumindest nicht, soweit ich mich erinnern konnte, was bei der Masse an Degenerierten ziemlich überraschend war. An den Rudelführern würde sich niemand vergreifen – es würde schon einen der weniger Auffälligen aus dem Gefolge treffen. Wenn ich ein Entführer wäre, nach welchen Kriterien würde ich mir mein Opfer aussuchen? Ich beobachtete die Gruppe einige Augenblicke und konzentrierte mich dann auf einen einzelnen Jungen, weil mein Bauch mir sagte, dass er der Verletzlichste der Gruppe war.
Ich stellte mir vor, dass er sich kurz von der Gruppe entfernte und ich mich an ihn heranschlich. He, Junge, brauchste was? Gras? Koks? Ecstasy? Dann könnte ich ihn weiter vom Rest der Gruppe weglocken und voilà – er wäre mein.
Das war etwas übertrieben, denn so leicht würde es nicht sein. Aber unmöglich wäre es auch nicht.
Auf einer Parkbank aß ich mein Chili und betrachtete weiter die Passanten, von denen viele Einkaufstüten schleppten. Ich beneidete sie um ihre Muße. Dann war es nur noch eine kurze Fahrt bis zur Adresse der Wilders. Mrs. Wilder öffnete fast augenblicklich die Tür. Sie hatte ein angenehmes Gesicht mit einem freundlichen Lächeln, aber so traurige Augen. Larrys Mutter sah älter aus, als ich erwartet hatte, aber ein solches Martyrium, wie sie erlebt hatte und noch immer durchmachte, kann einen Menschen wirklich altern lassen. Wir haben das alle schon zu oft gesehen.
Ich hatte noch kaum die Marke aus der Tasche gezogen, als sie schon sagte: »Detective Dunbar? Bitte kommen Sie herein.«
Was, wenn ich nicht Detective Dunbar gewesen wäre? Die Leute sind einfach zu nachlässig, was ihre Sicherheit betrifft. Ich sagte nichts – denn es wäre wie Salz in einer Wunde gewesen. »Ja. Mrs. Wilder?«
»Kommen Sie doch rein.« Sie streckte die Hand aus. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie freundlich. So nett und höflich. Als ich dann im Wohnzimmer stand, wanderte mein Blick zu einem Familienfoto auf dem Stutzflügel in einer Ecke. Mutter und Vater und vier Kinder. Der Blonde, Larry, war das kleinste und wahrscheinlich das jüngste. Diese Mutter schleppte sicher, wie alle anderen Mütter, eine tonnenschwere Last von Selbstvorwürfen mit sich herum – Larry war ihr Baby, und wir sehen Disziplin und Wachsamkeit bei unseren jüngsten Kindern viel lockerer als bei unseren älteren. Natürlich verziehen wir unsere ältesten Kinder bis zum Gehtnichtmehr, aber wenn dann die jüngsten kommen, sind wir schon entspannte Profis, die immer die richtigen Antworten parat haben. Wahrscheinlich hatte sie Larry viel mehr unbeaufsichtigt tun lassen als ihre ersten Kinder.
Ich ging zum Flügel und deutete auf das Foto. »Darf ich?«
»Bitte«, sagte sie.
Mit dem Zeigefinger deutete ich auf Larry. »Er sieht ein bisschen anders aus als auf dem Foto, das Sie uns gaben.«
»Ich weiß. Aber das andere ist präziser. Er lässt sich nicht gerne fotografieren, und deshalb sieht es bei ihm nie natürlich aus, wenn wir posieren. Aus diesem Grund habe ich Detective Donnolly auch das ungestelltere Foto gegeben. Darauf sieht er mehr aus wie der wirkliche Larry.«
»Aha. Ich glaube, das ist typisch für das Alter.«
»Ja«, sagte sie leise. »Und das sind meine anderen Kinder.«
Ihre überlebenden Kinder, dachte ich. Ich schalt mich für diese negative Haltung, während sie mir die anderen Kinder vorstellte, deren Namen ich sofort wieder vergaß, weil ich sie nie brauchen würde. Aber ihr Alter war für mich von Interesse und potenziellem Nutzen.
»Zwanzig, achtzehn und fünfzehn«, erklärte sie mir und deutete dabei auf jedes Kind.
Wir setzten uns, und ich wiederholte die Details des Falls so, wie ich sie in Donnollys Akte gelesen hatte. Der Onkel war von Zeugen gesehen und identifiziert worden, aber er war zu der Zeit auf der Feuerwache gewesen, zusammen mit sechs anderen Feuerwehrmännern, die alle gerichtsverwertbare Aussagen zu seinen Gunsten abgegeben hatten. Mrs. Wilder hatte zu den Informationen, die Donnolly ausgegraben hatte, nichts Neues hinzuzufügen. Es wurde Zeit, dass ich meine eigene Schaufel auspackte.
»Hatte Larry ein eigenes Zimmer?«
»Ja, das hatte er.«
»Ich frage mich, ob es wohl möglich wäre, dass ich einen Blick hineinwerfe?«
Mrs. Wilder erstarrte; das Zimmer war vermutlich so eine Art Heiligtum für sie. Sie sagte nichts, seufzte nur tief und deutete mit einer Kopfbewegung an, ich solle ihr folgen.
Gemeinsam stiegen wir die Treppe hoch und bogen nach links in einen langen, gut ausgeleuchteten Gang ein. Das Haus war hell und offen und hatte viele Fenster. Es sah nicht aus wie ein Trauerhaus. Der Boden war mit lachsfarbenem Spannteppich ausgelegt, der so weich war, dass ich meine eigenen Schritte nicht hören konnte, und an den Wänden hingen Fotos von wilden Tieren, jedes gerahmt in einer anderen Primärfarbe. Kinder mochten so etwas.
Larrys Zimmer war im Gegensatz dazu voll gestopft und unaufgeräumt. Auf dem Bett lagen Kleidungsstücke verstreut, Schuhe waren nachlässig einfach auf den Boden geworfen worden. Es sah aus, als hätte sie nichts angerührt. Ich tat so, als müsste ich mich abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während ich mir zwischen Videocassetten und Comicheften hindurch einen Weg suchte, und legte deshalb die Handfläche auf den Schreibtisch. Tatsächlich wollte ich die Oberfläche auf Staub prüfen. Ich betrachtete schnell meine Fingerspitzen, als Mrs. Wilder wegsah – sie waren sauber. Die Unordnung wirkte typisch für einen Jungen. Anscheinend hatte sie alles angehoben, die Oberflächen darunter abgewischt und alles wieder an seinen Platz gelegt.
Nach dem zu urteilen, was im Zimmer verstreut lag, hätte ich Larry Wilder für einen Stubenhocker gehalten. Es gab viel Computer-Zeug, darunter auch einen Joystick.
»Hat Ihr Sohn viele Videospiele gespielt?«
»Auf dem Computer, ja. Wir haben keins von diesen … ääh, Geräten, schätze ich, ich weiß nicht, wie ich die nennen soll … die man in den Fernseher einstöpseln kann.«
Sie sagte das ziemlich triumphierend. Schön für dich, dachte ich.
»Wir haben auch die Zeit begrenzt, die er im Internet sein durfte. Das Modem läuft über einen Timer. Wir hatten immer Angst, dass …«
Anscheinend konnte sie den Satz nicht beenden, aber ich wusste ziemlich genau, was sie sagen wollte. Larrys Eltern hatten Angst gehabt, dass irgendein elektronischer Mutant, ein Pädophiler, der sich als anderer Teenager tarnte, ihren Sohn in diesen unvorstellbaren Leerraum locken würde. Eine berechtigte Angst – wir in unserer Abteilung waren beständig auf der Suche nach Perversen, die sich der neuen, in Pädophilenkreisen immer beliebter werdenden Verführungsmethode bedienten: der Online-Maskerade.
Es sah inzwischen so aus, als hätte ich es mit einem Maskeradeur zu tun, aber der schien mit seinen Opfern nicht in einem Internet-Chatroom Kontakt aufzunehmen. Dieser Gedanke war fast eine Erleichterung, denn diese Typen gehören zu der schlimmsten Sorte Aufreißer – sie richten bei den Jungs, die sie bearbeiten, unglaublich viel Schaden an, nicht zuletzt dadurch, dass sie sie während des Verführungsversuchs von wirklich sinnvollen Tätigkeiten abhalten, auch wenn die Jungs nicht richtig anbeißen.
Aber es war auch eine gewisse Enttäuschung, denn wir haben unsere eigenen Aufreißer, Beamte, die als kleine Jungs posieren und so diese Perversen in eine Falle locken. Erst kürzlich hatten wir in unserer Abteilung einen solchen Fall – zu dem Zeitpunkt aß Escobar gerade einen Muffin und war deshalb lange genug an seinem Schreibtisch, um einen Anruf entgegenzunehmen –, bei dem der Vater eines Jungen argwöhnisch wurde, weil die Rechnung seines Internetproviders in einem Monat astronomische Höhen erreichte. Bevor er allerdings etwas zu dem Jungen sagte, rief er seinen Provider an und drohte mit seinem Anwalt, weil der Junge noch minderjährig war. Als der Junge sich nun in diesen Chatroom einloggen wollte, erhielt er einige Tage lang die Meldung SEITE IN BEARBEITUNG, er merkte also gar nicht, dass sein Zugang blockiert war. Der Vater gab diese Information an Escobar weiter, der die Online-Identität des Jungen annahm und es binnen einer Woche schaffte, mit dem Täter ein Treffen zu vereinbaren. Wir schnappten ihn auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants. Der Kerl wollte sich darauf hinausreden, er sei zu einer strafbaren Handlung provoziert worden, doch der Richter lachte nur und behielt ihn in Haft. Damals glaubte ich fast wieder an die Gerechtigkeit.
»Ein Timer«, wiederholte ich nachdenklich. »Direkt am Verbindungskabel?«
»Ja. Unterbricht die Verbindung, sobald er länger als eine bestimmte Zeit online bleibt. Nur sein Vater und ich wissen, wie man damit umgeht.«
»Eine sehr originelle Art der Kontrolle«, sagte ich. »Davon habe ich noch nie etwas gehört. Aber was für eine gute Idee.«
»Nachdem wir das Ding installiert hatten, wusste er genau, wie viel Zeit er fürs Internet hatte, und plante seine Hausarbeiten und seine anderen Aktivitäten so, dass wir uns deswegen nicht streiten mussten.«
»Das würde ich gern auch bei meinem Sohn mal versuchen. Ich finde, er verbringt viel zu viel Zeit am Computer.«
Sie schien das sehr zu freuen. »Ich sage meinem Mann, er soll sie anrufen – er ist derjenige, der sich mit den Details auskennt. Ich war allerdings diejenige, die die Sache durchsetzen musste.«
Ich lächelte und sagte: »Ist es nicht immer so?«
»Am Anfang war es ziemlich schwierig«, gestand sie mir, »aber sobald sich alle an das Verfahren und die Beschränkungen gewöhnt hatten, hatten wir keine allzu großen Probleme mehr. Wir hatten außerdem einen Site-Blocker installiert, den wir so programmierten, dass er in keine Chatrooms kam. Es gab auch einen, der von der Schule gesponsert wurde, aber für den brauchte man ein Passwort, um hineinzukommen, und er wurde nur stichprobenartig überwacht.«
Mrs. Wilder wischte automatisch ein bisschen Staub vom Tisch, aber die Art, wie sie das machte, bestätigte mir, was ich vermutet hatte: dass das Zimmer für sie heilig geworden war. Es war so traurig – diese penible, gepflegte, gebildete Frau am Ende ihrer mittleren fahre versuchte, mich wissen zu lassen, dass sie eine gute und aufmerksame Mutter gewesen war, eine verzweifelte Bemühung, in der sie sich für den Rest ihres Lebens verstricken würde. Unbewusst würde sie vor jedem, der wusste, dass ihr Sohn verschwunden war, ihre Rolle verteidigen. Wenn sie sich nur selbst überzeugen könnte, würde ihr der Rest von uns nicht mehr so wichtig sein.
»Wie ich Detective Donnollys Notizen entnehmen konnte, hielt er die Wahrscheinlichkeit einer Internet-Entführung für ziemlich gering. Soweit ich weiß, haben Sie zugestimmt, dass in dieser Richtung nur am Rande ermittelt wurde.«
»Das haben wir.«
»Hat sich Ihre Meinung in dieser Hinsicht geändert?«
»Nein.«
Ich deutete auf Larrys Bett. »Darf ich mich setzen?«
»Bitte. Machen Sie nur.«
Ich setzte mich auf den Rand der Matratze und betrachtete den Holzboden. In der Mitte des Zimmers lag ein Teppich mit deutlichen Staubsaugerspuren und nur einer Linie von Fußspuren: den meinen – wahrscheinlich löschte sie ihre eigenen Spuren mit dem Staubsauger, wenn sie das Zimmer verließ. Dann ließ ich meinen Blick nach oben wandern und musterte die Wände. Sie waren in einem etwas helleren Grünton als der Teppich gehalten, eine Farbe, die man früher Krankenhausgrün nannte, weil es angeblich erholungsfördernd und beruhigend wirken sollte. Eine Anschlagtafel mit Dutzenden kleiner Zettel hing an einer Wand sowie ein Kalender vom letzten Jahr, auf dem noch immer der Monat von Larrys Verschwinden aufgeschlagen war. Es gab einen Trainingsplan für Fußball, eine Karte mit Zahnarztterminen und eine Reihe von Geburtstagskarten mit typischen Großmuttermotiven. Und einen Mathe-Test mit einer großen Eins in einem Kreis. Nichts, was von der erwarteten Norm abweichen würde.
Aber wenn die Wände selbst erholsam wirken sollten – die Sachen, die er an sie gehängt hatte, waren es nicht. Es gab zwei riesige Poster der Krieg der Sterne-Filme, eins mit einem zerschundenen und blutigen Bruce Willis aus einer seiner Stirb Langsam-Episoden, und mehrere kleinere Poster mit Dinosauriern. Ein paar Anzeigen für WrestleMania waren aus Zeitschriften herausgerissen und ziemlich wahllos angeklebt worden, eindeutig nicht von einem Elternteil.
Noch keine Farrahs oder Britneys.
Doch das Poster, das mir wirklich ins Auge stach, war das für eine animatronische Ausstellung prähistorischer Tiere im Museum bei den La-Brea-Teergruben, die nach sehr langer Laufzeit im vergangenen Jahr geschlossen worden war. Das große, dunkle Rechteck hing an einem Ehrenplatz hinter dem Fußende des Betts, wo er es sehr gut sehen konnte. Evan war mit Jeff in diese Ausstellung gegangen – ich weiß nicht mehr, wer sie begleitete, Kevin oder Jeffs Vater –, und er schwärmte wochenlang davon. Alle möglichen Spezialeffekte, erzählte er mir, mit diesen unglaublichen Tieren von vor zehntausend Jahren. Am besten hatte Evan gefallen, dass es in dieser Show auch Ritter und Krieger gegeben hatte, wie in einigen seiner Fantasy-Spiele, und dass sie diese Tiere geritten hatten. Wissenschaftspuristen entfachten eine hitzige Kontroverse über die chronologische Ungenauigkeit; ich weiß noch, dass ich mich darüber ziemlich amüsierte, weil ich als Kind immer die Familie Feuerstein angeschaut hatte. Na, und die ritten auf Dinosauriern! Wichtig war mir nur, dass damals Evans Interesse für etwas Reales geweckt wurde.
Als ich das Poster sah, verstand ich die Begeisterung noch besser. Es zeigte einen grotesken, warzenübersäten Keiler, der vor ekligem Schleim triefte, viel zu violett für normales Blut, aber vermutlich etwas, das einem der Künstler als Bestienblut nahe bringen wollte. Auf dem Rücken dieses Keilers saß ein Kriegerwesen in einer reich verzierten, schwarzen Rüstung – das ganze Arrangement wirkte faszinierend mittelalterlich. Er hatte ein kurzes Schwert erhoben und hielt sich an der Mähne des Keilers fest – das Tier hatte eine zottige Krause um den Hals, fast wie ein Löwe. Position und Winkel des Schwerts erweckten den Eindruck, als wollte dieser Ritter oder Krieger das Tier töten, während er noch auf ihm saß. Er würde den Dämon zwar zur Strecke bringen, dabei aber stürzen und vielleicht selbst ums Leben kommen. Die eindrucksvolle Darstellung verstörte mich, aber mein Blick wollte sich nicht von den winzigen Details lösen, die der Künstler hineingemalt hatte, die Juwelen auf dem Heft des Schwertes, die fantastischen, eingeprägten Verzierungen auf der Rüstung, die blitzenden, spitzen Nieten auf den Fingern der Metallhandschuhe.
Doch trotz all der winzigen Details auf dem Bild war, wenn man in den Schlitz an der Vorderseite des Helms schaute, kein Gesicht zu erkennen.
»Hmm«, sagte ich, während ich das Poster anstarrte.
»Ja«, entgegnete Larrys Mutter fast unhörbar – eine merkwürdige Reaktion. Aber ich ging nicht weiter darauf ein.
Als ich das Haus der Wilders verließ, konnte ich mir ein besseres Bild von dem Jungen selbst machen. Es ist schwer, allein von Fotos und Beschreibungen einen lebendigen Eindruck zu bekommen. Was ich wirklich bräuchte, wäre ein animatronischer Junge. Aber nachdem ich in seinem Zimmer gewesen war, auf seinem Bett gesessen und gesehen hatte, wo er seine Turnschuhe abstreifte und seine Jeans hinwarf, nachdem ich mir die Dinge angeschaut hatte, die er sich gerne anschaute, kam ich zu dem Schluss, dass er ein netter, normaler Junge war, keiner der Promenade-Bürschchen. Ich sagte seiner Mutter, dass ich mich bei ihr melden würde, falls ich noch etwas brauchte, und dass ich sie sofort informieren würde, wenn sich etwas Neues ergeben sollte. Sie wusste, dass wenn eigentlich falls bedeutete; ich sah das ihrem Gesicht an, als ich mich verabschiedete. Aber sie war so freundlich, es mir nicht vorzuhalten.
Im Haus der McKenzies würde ich keine so freundliche Aufnahme finden. Meine Ankunft dort verzögerte sich wegen eines Stopps bei dem Café, in dessen Nähe Larry verschleppt worden war. Ich fuhr in eine Ladebucht und wurde sofort von einem stirnrunzelnden Kellner angegangen, der mich mit offenkundiger Verärgerung aufforderte, mein Auto woanders abzustellen. Meine Marke und die Versicherung, gleich wieder wegzufahren, nahmen ihm den Wind aus den Segeln.
Ein paarmal ging ich langsam den Bürgersteig auf und ab, immer unter den ungeduldigen Blicken des Kellners. Nachdem ich ein Gefühl für den Block bekommen hatte, ging ich direkt an ihm vorbei in das Café und fragte nach der Geschäftsführerin. Sie kam in weißer Jacke und fleckiger Schürze aus der Küche und wischte sich die Hand an dieser Schürze ab, bevor sie sie mir entgegenstreckte. Ich nahm an, dass sie wahrscheinlich auch die Köchin war, vielleicht sogar die Besitzerin. Sie sagte, sie sei am Tag der Entführung hier gewesen, habe aber selbst nichts gesehen, und berichtete dann, die beiden anderen potenziellen Augenzeugen arbeiteten nicht mehr in diesem Café, ich müsse sie also zu Hause aufsuchen, falls sie noch immer an der alten Adresse wohnten. Sie meinte, dass zumindest eine nach wie vor in der Nachbarschaft wohne, weil sie noch gelegentlich herkomme und nichts von Umziehen gesagt habe.
Ich dankte ihr, ging wieder nach draußen und verärgerte den Kellner noch ein wenig mehr, indem ich ihn direkt anlächelte und mich an einen der Tische im Freien setzte. Nun musste er mir tatsächlich seine Aufmerksamkeit schenken, der arme Kerl. Während ich das tat, kam ein Auto langsam herangefahren und blieb parallel zu meinem Fahrzeug stehen. Der Fahrer nickte dem Kellner zu, der einen nervösen Blick in meine Richtung warf und dann langsam den Kopf schüttelte. Das Auto stieß langsam zurück und fuhr die Straße hinunter. Eine klassische unauffällige Abwimmelung, weil die Luft nicht rein war.
Jetzt war klar, warum der Trottel nicht wollte, dass sich irgendjemand, vor allem keine Polizisten, in diese Ladebucht stellte. Er wartete nämlich auf eine Drogenlieferung. Wahrscheinlich nur für sich selbst; für einen Dealer wirkte er nicht taff genug. Ich prägte mir die Nummer des davonfahrenden Autos ein, um sie später jemandem aus dem Drogendezernat zu geben. Wenn der Kerl sich wirklich über mich ärgern wollte, dann würde ich ihm mit Freuden einen richtig guten Grund dafür geben.
Ich bekam den Eindruck, dass Marcia McKenzies Gereiztheit ihr normaler Zustand war, auch über ihren Kummer hinaus, so wie Mrs. Wilders normaler Zustand die Freundlichkeit war.
»Ich weiß nicht, warum ich das alles noch einmal durchkauen muss«, jammerte sie, als wir uns schließlich gesetzt hatten. Schon jetzt kam ich mir wie ein Eindringling vor, das Haus war so perfekt hergerichtet, dass ich mich nicht genügend qualifiziert fühlte, es zu betreten. Nicht auszuschließen, dass Plastikhüllen über die Möbel kamen, wenn einige Tage lang kein Besuch erwartet wurde. Fast hatte ich Angst, über den Orientteppich im Wohnzimmer zu gehen; das Ding hatte wahrscheinlich ein paar meiner Monatsgehälter gekostet.
Leider hatte ihr Wohlstand diese Familie nicht geschützt. Jared McKenzies Verschwinden hatte sie getroffen wie eine Fuhre Kies, und sie buddelten sich immer noch heraus. Leute, die nicht erwarten, zu Opfern zu werden, werden wütend und frustriert, sie fühlen sich unsicher und verletzt, und es verstört sie enorm, dass die Welt in einem kurzen Augenblick zu einem so fremden Ort werden kann. Marcia McKenzie war bisher gewöhnt an allseitige Ehrerbietung, musste sich aber jetzt mühsam durch ein schwerfälliges System kämpfen, das gegen einen anonymen Kriminellen nicht ankam. Alles, was sie bei dem Versuch, eine Art von Gerechtigkeit zu erreichen, erlebt hatte, stand in krassem Gegensatz zu dem, was sie von diesem System erwartete. Den Buchstaben des Gesetzes nach hätte das System sie besser behandeln müssen, deswegen brauchte sie aber nicht so unhöflich zu mir zu sein. Mindestens ein Dutzend Mal im Verlauf unseres Gesprächs wäre ich am liebsten aufgestanden und gegangen. Ich konnte den Ausdruck Es ist eine Schande schon nicht mehr hören – es kam mir vor, als wären Terry Donnolly und ich die direkte Ursache ihres Elends.
Sie schimpfte immer weiter. »… ein beklagenswerter Mangel an Reaktion, die ärgerliche Unfähigkeit, den Bedürfnissen meiner Familie gerecht zu werden …«
Ja, ich verstehe, dass Sie den Eindruck bekommen könnten, die Sache wäre fallen gelassen worden, während wir Detective Donnollys Fälle neu organisierten. Aber das wird jetzt alles besser. Ich musste vorsichtig sein; wenn ich ihr zu bereitwillig zustimmte, würde sie noch unrealistischere Erwartungen entwickeln, als es ohnehin schon der Fall war. Ich brauchte fast eine Stunde, bis ich sie beschwichtigt hatte und in Jareds Zimmer gelangt war, und dann klingelte – Gott sei Dank – das Telefon. Sie ließ mich allein und ging nach unten, um den Anruf entgegenzunehmen.
Sie blieb lange weg, und da ich nach einer Weile keine Lust mehr hatte zu stehen, setzte ich mich ohne Erlaubnis aufs Bett. Im Gegensatz zu Larry Wilders Zimmer war dieses Zimmer aufgeräumt worden von einer übereifrigen Mutter, die noch eine gewisse Kontrolle über einen Sohn ausüben musste, der nicht länger da war. Und dafür gab es keinen besseren Ort als seine Privatsphäre, die vielleicht schon vor seinem Verschwinden ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen sein mochte. Ich war in Jareds Zimmer dreister als in Larrys, berührte ohne Skrupel Dinge, hob sie auf, drehte sie um und musterte sie eingehend. Larry Wilders Zimmer hatte auf mich wie ein Ort des Respekts gewirkt, während Jared McKenzies einer des Tumults war, wobei die Atmosphäre bestimmt wurde von den respektiven Müttern oder, in Marcia McKenzies Fall, der respektlosen Mutter.
Ich öffnete seine Schubladen und erwartete, sie sauber und aufgeräumt zu finden. Aber zu meiner Freude waren sie unordentlich und typisch Junge. Vertrocknete Filzstifte, kleine Steine, verbogene Büroklammern, abgenagte Bleistifte, zerrissene Schuhbänder, Sammelkarten, ausländische Münzen, Kinokarten …
Und ein Bleistiftetui, aus dem Souvenirladen der La-Brea-Teergruben.